Der andere Weg

Text von Jessica Wirth
Bilder von Jessica Wirth

Billige Massenware überschwemmt den Markt. Kleine Unternehmen können dem Druck nicht standhalten. Sie verschwinden. In der Zentralschweiz ging ein Appenzeller mit kalabresischen Wurzeln den anderen Weg. Er verbannte die Maschinen, wendete sich von der industriellen Produktion ab und besann sich auf altes traditionelles Handwerk. Mit Erfolg.

Das Herz der Glasi Hergiswil ist der grosse Wannenofen. Hoch hitzebeständiger Stein umschliesst verschiedene Arbeitswannen, aus welchen schwitzende Männer flüssiges Glas entnehmen. Um damit zu zaubern. 1975 steht der Betrieb vor dem Ruin. Die Familie Siegwart hatte sich verkalkuliert. Als nach dem 2. Weltkrieg die Glasproduktion vom Menschen auf die Maschine verlagert wurde, investierten sie in die falschen Anlagen. Dem Konkurrenzdruck aus dem Ausland waren sie nicht mehr gewachsen. Roberto Niederer, selbst Apparateglasbläser, hatte zu jener Zeit oft einen Arbeitsplatz in Hergiswil gemietet. Dort produzierte er Schirmständer, Aschenbecher, Vasen und Schalen. Nun sollte also Schluss sein. Für den Glasfanatiker mit kalabrischen Wurzeln undenkbar. Niederer entschloss sich, die marode Produktion zu übernehmen. Mit einem waghalsigen Plan: Die Massenproduktion sollte kleinen feinen Editionen weichen. Die Maschinen durch Menschen, dem offenen Feuer und altbewährten Glasmacherpfeifen ersetzt werden. So wollte er handwerkliche Tradition mit exklusivem Design verbinden.

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Handwerk für alle

Gesagt getan? Nicht ganz. Robert Niederer junior, welcher heute selbst das Pensionsalter erreicht hat, erinnert sich an turbulente Zeiten: «Mein Vater sass nicht gerne am Schreibtisch. Lieber stand er am Ofen, um neue Ideen umzusetzen. Jene inspirieren uns noch heute. Die viele Arbeit ging nicht spurlos an ihm vorbei. Während dreizehn Jahren hatte er fünf Herzinfarkte.» 1988 stieg Robert selbst in den Betrieb ein, um den Vater zu entlasten. Die Zusammenarbeit war jedoch von kurzer Dauer. Sechs Monate später starb der kreative Patron. Nun war der junge Unternehmer auf sich alleine gestellt und öffnete die Produktion: «Wir machten eine Ausstellung über das Lebenswerk meines Vaters. Jene hat die Besucher zu Tränen gerührt und ich habe realisiert: Unser Glashandwerk geht Mitten ins Herz. Wenn wir zeigen, wie viel Arbeit und Leidenschaft hinter einem einzigen Weinglas steckt, sind die Menschen bereit, auch etwas mehr dafür zu bezahlen.»

So beobachte ich das hitzige Treiben um den Ofen, der frei im grossen Raum steht. Physikalisch gesehen ist das Material «Glas» erstarrte Flüssigkeit. Diese Tatsache ist Niederer wichtig: «Wir stellen unsere Produkte hier vor Ort her. Wir schleifen oder manipulieren sie nicht im Nachhinein. Das Glas ist aus reiner erstarrter Flüssigkeit gefertigt und mit grossem handwerklichem Geschick geformt.»

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Aufbruch

In den letzten Jahren hat sich der Markt stark verändert. Ein Weinglas aus Hergiswil kostet 64 Franken, bei Ikea gibt es Gläser für einen Bruchteil davon. So beliefert Niederer heute noch rund 180 Geschäfte, vor 10 Jahren waren es deren 800. Jener Entwicklung sieht der Unternehmer jedoch gelassen entgegen.

    Robert Niederer junior, Unternehmensleiter der Glasi Hergiswil
    Wir haben Tausende von Butterplättli, Vasen und Kerzenständer hergestellt, wir sind bereit für neue Herausforderungen.

Gemeinsam mit seinem Sohn Leandro, welcher die Glasi weiterführen wird, und Produktionsleiter Eduar Arabiano schmiedet er grosse Pläne: «2017 feierten wir unser 200-jähriges Jubiläum. Aus 700 handgegossenen Platten bauten wir einen 20 Meter hohen Glasturm am See.» Kurz darauf folgte die erste Anfrage eines namhaften Architekturbüros. Niederer freut sich: «Wir haben Tausende von Butterplättli, Vasen und Kerzenständer hergestellt, wir sind bereit für neue Herausforderungen.» Auch die Tavolago nutzt das Angebot der Glasi gerne, wenn es um die Umsetzung eigener Ideen geht. Das überdimensionale Weinglas, welches sie dem «Lieferanten des Jahres» verleiht, ist hier gefertigt. Neben dem grossen Wannenofen, der rund drei Tonnen flüssiges Glas pro Tag hergibt, steht ein kleines feines Exemplar. Unter fachmännischer Anleitung kann dort jeder zum Handwerker werden und eigene Kugeln formen. Robert Niederer und sein Sohn werden auch in Zukunft ihrem konsequenten Weg treu bleiben und sich der Massenproduktion entschieden entgegen stellen. In Hergiswil zelebrieren sie das Handwerk mit Stolz und beglücken uns mit Gläsern, Vasen oder mächtigen Bauelementen hinter welchen Menschen und keine Maschinen stehen.

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